Der Fall Monroe
"Format" Nr. 32/02, 02. August 2002
Vor vierzig Jahren starb Marilyn Monroe, die Ikone des 20. Jahrhunderts, unter rätselhaften Umständen. Immer noch wird darüber debattiert, ob die Psychoanalytiker, die sie behandelten, für ihren Tod mitverantwortlich sind.

Marilyn Monroe bei den Dreharbeiten zu "Misfits"
In einer der schönsten Filmszenen, die Marilyn Monroe je spielte, stiehlt die Schauspielerin niemand Geringerem als Sigmund Freud die Show. Tony Curtis will Monroe, die Ukulele der Damenkapelle aus "Manche mögen's heiß", verführen. Er lädt sie auf eine Jacht ein und gaukelt ihr vor, er sei sexuell völlig empfindungslos. Natürlich will er sie herausfordern, denn von der Monroe im wahrsten Sinn des Wortes flachgelegt zu werden ist noch tausendmal schöner, als sie zu erobern. Nicht einmal der Begründer der Psychoanalyse in Wien, klagt Curtis im Film, habe ihm helfen können, seine Libido wiederzuerlangen. Eindeutig ein Fall für MM: Hingebungsvoll küßt sie ihn, bis seine Brillengläser beschlagen. Die Liebe, das ist die Botschaft der Szene, bewirkt mehr als hundert Stunden Analyse. Doch Marilyns Verführungskünste, auch das wird in diesem Moment klar, sind Folgen einer Manipulation. Sie glaubte, die Situation zu beherrschen, doch in Wahrheit ist sie bloß gegängelt worden - einmal mehr in ihrem 36jährigen Leben, das sie aus zerrütteten Verhältnissen in den Olymp Hollywoods, von dort in dessen tristen Schatten und schließlich, aufgrund ihres frühen rätselhaften Todes, in das ewige Gedächtnis der Menschheit führte.

Billy Wilder mag beim Schreiben der Szene gewußt haben, wie nahe er in diesem kurzen Stück Film an die wahre Marilyn Monroe gekommen war. Dem Regisseur war damals bekannt, daß seine Hauptdarstellerin bereits seit Jahren in regelmäßiger psychoanalytischer Behandlung bei orthodoxen Vertretern der Schule Freuds war; Marilyns Therapeuten tauchten hin und wieder sogar am Drehort auf, um den Star seelisch wieder aufzurichten. Und er wußte auch warum, schließlich hatte er genug unter ihren seltsamen Ticks, ihren mittelprächtigen Neurosen und ihrer gelegentlich aufflackernden Hysterie zu leiden gehabt.

Ständig kam sie zu spät. Ihr Rekord: eine ganze Woche. Sie schmiß Takes, in denen sie bloß einen Satz zu sagen hatte, mitunter 65mal - und war dann plötzlich vor der Kamera wunderbar. Sie war eben Marilyn Monroe, und deshalb hielt Wilder ihr Streben, Seelenheil bei Seelenärzten zu finden, für wenig zielführend. "Auf der Welt gibt es gewisse wundervolle Kratzbürsten wie die Monroe", sagte er einmal, "und wenn die sich eines Tages auf die Couch eines Analytikers legen, kommt ein verkniffenes, langweiliges Etwas raus. Für die Monroe ist es besser, wenn man ihr den Kopf nicht zurechtrückt. Was ihren Charme ausmacht, sind ihre beiden linken Füße."

Wilders noch zu Monroes Lebzeiten geäußerte Charakterisierung mutet vierzig Jahre nach ihrem Tod geradezu prophetisch an. Seit jenem 4. August 1962, als Marilyn Monroe nackt auf dem Bett ihres Hauses in Brentwood, Los Angeles, starb, ist immer wieder über die mögliche Mitverantwortung der Psychoanalyse an ihrem tragischen Ende spekuliert worden. Haben ihre Therapeuten Monroes wahren Probleme überhaupt erkannt? Haben sie die Wahl ihrer Mittel reiflich und verantwortungsvoll überlegt? Oder sind sie einfach der Versuchung erlegen, einen hilfesuchenden Superstar unter ihre Kontrolle zu bringen?

Kein Zweifel, für die Psychoanalyse war Marilyn ein Geschenk des Himmels, an dem auch Gründervater Sigmund Freud seine helle Freude gehabt hätte. "Marilyns Kindheit", schrieb das US-Magazin "Time" 1961, als das Seelenleid des Stars längst öffentlich erörtert wurde, "war so traumatisch, daß Freud die Hälfte seiner Theorien einzig und allein aus ihrer Fallgeschichte entwickeln hätte können." Sie wuchs auf, ohne ihren Vater zu kennen, wurde Opfer sexuellen Mißbrauchs, ihre Mutter befand sich immer wieder in geschlossener psychiatrischer Behandlung. Schon in einem nicht veröffentlichten Recherchedossier für eine "Time"-Coverstory im Jahr 1956, das auf Gesprächen mit Marilyns Vertrauten und angeblich sogar ihren Analytikern beruhte, hieß es, das "Rätsel Monroe" harre noch seiner Lösung; wahrscheinlich gehöre es "auf die Couch eines Analytikers". Und weiter: "Sie hat etwas Mystisches, beinahe Magisches an sich, das noch niemand genau definieren konnte, das sie jedoch dorthin gebracht hat, wo sie heute steht - trotz einer Vorgeschichte, mit der sie normalerweise in einer staatlichen Nervenklinik oder als Alkoholikerin in der Gosse gelandet wäre."

Fünf Jahre nach diesen "Time"-Recherchen erschien in dem Magazin eine weitere Story über Marilyns psychische Probleme. Der Anlaß: Monroe war völlig erschöpft von den Dreharbeiten für "Nicht gesellschaftsfähig", an denen auch ihre Ehe mit Arthur Miller zerbrochen war, aus Las Vegas nach New York zurückgekehrt und hatte sich zu einem mehrtägigen Alkohol- und Tablettenexzeß in ihre Wohnung zurückgezogen. Ihre damalige Analytikerin Marianne Kris ließ den Star in eine psychiatrische Klinik bringen. Monroe tobte und flehte in einem Brief darum, von "diesen Idiotenärzten" befreit zu werden. Ihr Ex-Mann, der Baseballstar Joe DiMaggio, holte sie nach einigen Tagen aus der geschlossenen Anstalt. Monroe brach umgehend ihre Analyse bei Kris ab.

Aber verkörperte die Psychiatriepatientin Marilyn Monroe damals tatsächlich die Essenz der Freudschen Lehren? Die Einweisung in die Psychiatrie durch Kris, befanden viele ihrer späteren Biographen, sei keineswegs zu rechtfertigen gewesen. Marilyn habe ein Suchtproblem gehabt, sei aber, so ihr Biograph Donald Spoto, "zu jener Zeit eine Frau gewesen, die trotz Problemen eine klare Vorstellung von ihrem Leben hatte". Es erinnert geradezu an Freuds "Psychopathologie des Alltagslebens", in der der Analytiker die kleinen Zufälle des Lebens mit tiefenpsychologischer Bedeutung auflud, daß Marilyn die Rolle der Freudschen Überpatientin zumindest in einem Film beinahe übernommen hätte. Im Sommer 1960 bot John Huston ihr die weibliche Hauptrolle in einem Film über Freud an; Marilyn sollte Cäcilie spielen, eine von Drehbuchautor Jean Paul Sartre aus Freuds Fallgeschichten zusammengezimmerte Figur. Doch ihr damaliger Analytiker Ralph Greenson, der mit Freuds in London lebender Tochter Anna befreundet war, hatte bereits genug Macht über sie, um ihr Engagement zu verhindern. Offenbar wollte er damit Freuds Tochter einen Gefallen tun. Anna war, wie ihr Vater, grundsätzlich gegen Leinwanddramen über die Psychoanalyse.

Monroe-Biograph Donald Spoto kritisiert ihren letzten Analytiker Greenson vor allem wegen der wechselseitigen Abhängigkeit, die ihn mit seiner Patientin verband. Ihr Tod, so Spoto, "zeigte die Folgen einer letztlich nicht mehr kontrollierten Therapie, die der Therapeut nicht mehr beenden konnte, weil er wußte, daß er gefühlsmäßig viel zu sehr mit seiner Patientin verbunden war". In psychoanalytischer Fachsprache formuliert: Greenson war ein Opfer der sogenannten Gegenübertragung geworden. Der kalifornische Analytiker, der auch Frank Sinatra behandelt hatte, nahm Monroes Existenz in ihren letzten beiden Lebensjahren völlig in die Hand, integrierte sie in seine eigene Familie, umgab sie mit Menschen seines Vertrauens und hielt jene, die dem Star früher nahestanden, von ihr fern.

Beeinflußt wurde er in seiner Strategie von der damals in den USA weitverbreiteten Egopsychologie, die auch Anna Freud vertrat. Diese Form der Therapie besteht darin, Patienten ein akzeptables Umfeld zu verschaffen, indem sie in die soziale Struktur des Therapeuten integriert werden. "Ich mache Greenson sicher nicht für Marilyns psychischen Niedergang verantwortlich", sagt der mehrfach preisgekrönte britische Dokumentarfilmer Adam Curtis, "aber er hat die Methode in ein Extrem geführt." In einer kontroversiellen BBC-Produktion über das Jahrhundert der Psychoanalyse behauptete Curtis im März dieses Jahres, das Scheitern von Monroes Therapeuten habe die Lehre der Egopsychologie in den USA erstmals massiv in Frage gestellt.

Dennoch: Es gab niemanden, der Monroe davon hätte überzeugen können, daß Freuds Lehren, an ihrer Person angewandt, vielleicht mehr Schaden als Nutzen anrichten würden. Auch Arthur Miller fand anfangs, seine Frau sehe durch ihre begonnene Analyse nun "viel klarer"; er sollte seine Meinung im Lauf der Jahre allerdings radikal ändern.

Die Analytiker, sagte Miller dreißig Jahre nach Marilyns Tod, seien daran gescheitert, ihre Abhängigkeit von schweren Psychopharmaka zu bekämpfen; "und so behandelten sie sie, als wäre sie einfach eine extrem neurotische Persönlichkeit". Biograph Spoto spricht gar von der Unfähigkeit der Ärzte, Marilyns schließlich tödliche Abhängigkeit von Schlaftabletten zu bremsen. Ihren letzten Film, "Something's got to give", konnte sie 1962 wegen ihrer Sucht nicht mehr vollenden.

In der Tat: Sowohl die Analytikerin Margaret Hohenberg als auch deren Nachfolgerin Marianne Kris und später Ralph Greenson verließen sich, was Marilyns Probleme mit schweren Medikamenten betraf, auf andere Ärzte - und pflegten selbst lieber klassische therapeutische Gespräche, immer in der Hoffnung, das entscheidende verborgene Trauma aus ihrer Kindheit zutage fördern zu können. Donald Spoto ortet in seiner Monroe-Biographie einen "Mangel an Kommunikation zwischen Therapeuten und Internisten", die "stets unabhängig voneinander tätig waren". Und so fällt seine Theorie über Monroes Tod weit weniger spektakulär aus als all die seit August 1962 kursierenden Vermutungen über Selbstmord aus Liebeskummer und Mord, womöglich angestiftet durch die Brüder Robert und John F. Kennedy, mit denen sie kurze Affären gehabt hatte. Greenson, so Spoto, habe am 4. August Marilyns Flehen nach einer Dosis des Schlafmittels Chloralhydrat nachgegeben und dabei übersehen, daß ihr ein anderer Arzt bereits Nembutal verabreicht hatte. Doch Chloralhydrat behindert den Abbau von Nembutal im Körper; zusammen entfalteten die beiden Mittel tödliche Wirkung. Ein Unfall also, verursacht durch ärztliche Fahrlässigkeit? Schlüssig bewiesen ist auch das nicht.

Überliefert ist nur, daß Marilyn in ihren letzten Lebensmonaten an der Sinnhaftigkeit ihrer Analysen zu zweifeln begann. Sie fühlte sich, "als ob ich mich im Kreise drehe". Es war ihr offenbar zuviel geworden, daß die Seelenärzte sie immer wieder zu neuen tiefenpsychologischen Reisen in ihre Kindheit entführten. "Es ging nicht darum, welchen Weg ich einschlagen sollte, sondern woher ich komme", gestand sie einem Freund, "aber woher ich kam, wußte ich ja."

Marilyns Wunsch war es immer gewesen, aus der Analyse heraus Lebensperspektiven zu gewinnen. Sie wollte als ernsthafte Schauspielerin wahrgenommen werden und besuchte in New York die Schauspielschule des Gurus Lee Strasberg und dessen Frau Paula. Doch deren "Method Acting" glich wiederum der klassischen Psychoanalyse. Lee riet ihr, in den Mantel zu schlüpfen, "als glitten Sie in ein Schaumbad"; Paula meinte während der Dreharbeiten zu "Machen wir's in Liebe", sie solle Yves Montand küssen, "als fließe kaltes Wasser über einen eisernen Zaun". Dazu kam: Lee und Paula Strasberg hatten mindestens ebenso großes Interesse, Marilyns Leben zu bestimmen, wie ihre Analytiker. Sie konnten der Versuchung nicht widerstehen, den Weltstar Monroe nach ihren Vorstellungen zu gestalten.

Schauspielschule und Analyse führten immerhin dazu, daß Monroe ein sehr gutes Sensorium dafür entwickelte, in sich hineinzuhören. Sie deutete ihr Innenleben klassisch psychoanalytisch, indem sie immer wieder Reizbegriffe der Tiefenpsychologie verwendete. Sie sprach von "Phallussymbolen" und empfand Situationen als "freudianisch". Sie war, analysierte Arthur Miller, "eine geborene Freudianerin. Es gab keine zufälligen Versprecher, kein unschuldiges Versehen; jedes Wort, jede Geste signalisierte eine innere Absicht, sei sie bewußt oder unbewußt."

In einem berührenden Brief an Greenson, der erst vor wenigen Jahren auftauchte, erzählte sie ihrem Analytiker, daß sie während eines Aufenthaltes im Krankenhaus Briefe von Freud gelesen habe. Dabei sei ihr ein Bild des Begründers der Psychoanalyse aufgefallen. Sie mußte weinen, denn sie erkannte "in seinem freundlichen Gesicht eine traurige Enttäuschung". Und weiter schrieb Marilyn Monroe, die in diesem Moment ihres Lebens Sigmund Freud mit Sicherheit am nächsten war: "Ich meine, er besaß einen freundlichen, traurigen Humor, und in ihm war auch so ein ewiges Streben."

Klaus Kamolz